Theater der Zeit
Seelen wie hart gewordene Pausenbrote
Die Figuren in „Menschen in Kindergrößen“ führen ihr innerstes Kind spazieren wie störrische Dackel. Sie ahnen alle, dass sie gar nichts müssen, nicht einmal erwachsen werden. Lene (Julia Kreusch) etwa steigt, wann immer sie sich zu viel wird, aufs Hausdach und springt in Madita-Manier, wenn auch ohne Regenschirm, hinunter, wobei durchaus nicht sicher ist, ob sie überhaupt gerettet werden möchte. Ihr Freund Anton (Zlatko Maltar) ist praktischerweise Rettungsfahrer, kurioserweise aber kann der Gute gar kein Blut sehen. Gemeinsam treiben sie sich im Wald herum. Dort steht das verfallene Haus, in dem Lene einst mit ihrem Vater wohnte. Der Alte spukt noch immer um sie herum, lässt sie nicht in Ruhe mit seiner aufdringlich unangemessenen Vaterliebe – um nicht zu sagen Vatergeilheit. Er rückt ihr mit feuchten Küssen zu Leibe, bis Lene gar nicht anders kann, als zum Sprung anzusetzen. Im Wald, der im Sommer von Ausflüglern und ihren Picknickdecken bevölkert wird, steht auch das verwaiste Kinderheim, aus dem sich Marek und Koll einst befreien konnten. Marek (Thomas Prazak) ist ein rührender hilfloser, kindsköpfiger Träumer, in dessen Kopf sich ein Film in Endlosschleife abspult, wie er einmal sagt, während der bullige Koll (Lorenz Klee) im Militarylook auftritt und das Leben als Abenteuerspielplatz missbraucht. Unterstützt wird er dabei von Ada (Johanna Paliatsou), die sich sehr nach Blut, Krieg und Rausch sehnt.
Das pochende Unglück, um das die österreichische Dramatikerin Gerhild Steinbuch ihre verlorenen Gestalten arrangiert, ist ein Unfall, bei dem Anton den todesmutigen Koll aus Versehen totfährt. Formal angelehnt an den Film „21 Gramm“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Inárritu, montiert Steinbuch ihre verschiedenen Handlungsstränge und Begegnungen und folgt dabei keinerlei Chronologie. Im TIC Werkraum, der Nebenspielstätte des Staatstheaters, stehen mit Fotowaldtapete verkleidete Podeste. In der Mitte des Raums – die Zuschauer sind auf zwei einander gegenüberliegenden Tribünen platziert – versammeln sich zuweilen alle Akteure. Dann reden sie heillos durcheinander, indem sie immer wieder versuchen zu sagen, was sie nicht aussprechen können.
Regisseurin Julie Pfleiderer widmet sich dem Text mit Sorgfalt, lässt etwa Lene und Anton Dialoge in verschiedenen Tonlagen wiederholen. Dann probieren die beiden Sätze und Worte an wie fadenscheinige Strickjacken. Die poetische Wucht und bodenlose Traurigkeit des Stücks ist auf diese Weise zauberhaft aufgehoben im Sprachkosmos der Figuren. Julia Kreusch als Lene hinterlässt dabei an diesem Abend den vitalsten Eindruck, das liegt nicht zuletzt an ihrer unfassbar schönen Theaterstimme, die die Sätze in eine Höhe spinnt, in der sie scheinbar zu fliegen beginnen. Dagegen agiert Thomas Kornack als „Alter“ nur mit blasser Bräsigkeit.
Einer der feinfühligsten Momente gelingt der Regisseurin indes, wenn sie Koll und Ada einen Pas de deux ekstatischer Erschöpfung tanzen lässt. Wo die Worte versagen, lehne sich die beiden aneinander wie an eine stützende Wand. Wie überhaupt alle Figuren um Haltung ringen, immer wieder versuchen, die Balance im eigenen Leben herzustellen, ihr Gleichgewicht zu finden. Ihre Traumata schleppen sie als Erbsünde durch den Wald, der ihnen die Welt bedeutet. Dazu erklingen immer wieder die ersten Takte aus Schuberts wehmütigen Andantino seiner Klaviersonate D959. Dann tönt es düster verstörend, und einmal tuscht fröhlich verfremdete Jahrmarktsmusik aus den Lautsprechern. Das passt gut, denn die Figuren taugen fürs Kuriositätenkabinett. Menschen, die ihre Kinderseelen vor aller Augen auspacken wie hart gewordene Pausenbrote.
Mit ihrer durchdachten Licht- und Musikdramaturgie strukturiert Pfleiderer das Stück nicht nur, sondern macht es für die Bühne erfahrbar. Unter ihrem Zugriff löst sich der Text aus seiner selbstverschuldeten Rätselhaftigkeit, ohne deswegen letzte Geheimnisse und das Mysteriöse, Märchenhafte und Traumhafte zu verspielen. In gerade einmal etwa mehr als einer Stunde entspannt der Abend ein mehrstimmiges Gespensterballett. Die Menschen in Kindergrößen sind dabei nichts als kaputte Kinder, die sich am liebsten vorm Leben verstecken, sei es auf dem Dachboden oder unterm Tisch. Dort halten sie sich ganz fest die Augen zu und denken an damals – als die Märchen noch geholfen haben.
Shirin Sojitrawalla
Menschen in Kindergrößen – Gerhild Steinbuchs neues Stück, schlüssig uraufgeführt in Mainz
Nachtkritik.de
Wie im Wald ausgesetzt
Mainz, 20. Dezember 2008. Eine Spieluhr klingt und zwirbelt eine Melodie. Sie hat weder Anfang noch Ende, ein süßliches Geklingel für die Ewigkeit. Ähnlich verhält es sich mit den Figuren, die sich im Kreise drehen, sich in schon Bekanntes hineinzwirbeln, ohne dass sich irgendetwas ändert – “Mein Kopf ist Vorführung in Endlosschleife”, sagt Marek einmal. In den Stücken der österreichischen Autorin Gerhild Stein verkeilen sich Familienangehörige meist ganz gehörig im Jetztzustand.
“Menschen in Kindergrößen”, das nun am Staatstheater Mainz uraufgeführt wurde, versammelt sechs Kaputtnicks im Wald – ein dichtes Spiegelkabinett verkrachter Existenzen, die sich ähneln und doch nichts voneinander haben. Der Wald ist eine Gegenwelt in Steinbuchs Stück – ein Ort, an dem Schuld nicht verarbeitet und damit bewältigt wird, wie es einem die Psychologie so gern verspricht. Sondern einer, an dem sich die sechs noch viel tiefer in ihre Schuld, ihre Scham und ihre Versehrtheit versenken. Es ist ein düsterer Albtraumort, in dem sie wie Gespenster auf- und untertauchen.
Märchen- und Rettungsfantasien
Da ist Lene, die gemeinsam mit ihrem Vater in einem Haus im Wald aufwuchs – ein Vater, der sie missbrauchte und ihrer Kindheit damit ein Ende setzte. Irgendwann ist er im Wald verschwunden. Im roten Strickmantel und barfuss läuft Julia Kreusch als Lene über die kleine Bühne der Nebenspielstätte TiC, eine mal energische, mal weinerliche Mädchenfrau. Um zu vergessen, springt sie einmal in der Woche vom Dach und lässt sich dann von der Rettung wieder einsammeln. So lernt sie Anton (Zlatko Maltar) kennen, den Rettungswagenfahrer, der kein Blut sehen kann.
Sowieso suchen all die Verunglückten danach, von einem anderen mitgenommen zu werden, hegen ihre Rettungsfantasien. Und es ist keine Überraschung, dass ihnen das nicht gelingt. Da stolpert Ada am Bahnhof über Kroll, der im Kinderheim gegenüber von Lenes Elternhaus aufwuchs und ihm noch immer zu entkommen versucht, indem er sich in Unfälle verwickelt und die Nacht im Krankenhaus verbringen darf. Bis das Spiel tödlich wird, als Kroll vor Antons Rettungswagen springt. Ada war dabei, doch sie sprang nicht und überlebte.
Suche nach Aufregung in XXL
Der Unfall verbindet die lose nebeneinander stehenden Figuren für einen Moment und versprengt sie dann wieder, er behaftet Anton mit Schuld und befreit Lene von dieser. Ada langweilt sich am bloßen, “echten” Leben, und Johanna Paliatsou spielt sie als Gör in Springerstiefeln und Armyhosen, die mit trotzig-rotziger Visage einen Krieg verlangt, einen Anschlag oder eine Katastrophe, irgendeine Aufregung in XXL, die der Ödnis ein Ende setzt.
Die lyrische Steinbuch-Sprache verrätselt gerne. Die Regisseurin Julie Pfleiderer verschafft ihr Konkretheit, nimmt sie musikalisch und gibt ihr Resonanzräume. Wie eine Arena ist die Bühne angelegt. Die Zuschauer sitzen sich in zwei Reihen gegenüber, zwischen ihnen ein helles Areal am Boden, rechts und links stehen mit Waldfototapete beklebte Kuben, auf denen die Figuren ab und an herumlungern und ihrem Unglück nachhängen. Pfleiderer baut Steinbuchs Text hier und da aus, ergänzt ihren lyrischen Ton um Alltagssprech, wenn sie etwa die Schauspieler zu Beginn Ortsangaben sprechen lässt, die die Autorin ihrem Stück vorangestellt hat. Sie lässt die Figuren sich kurz vorstellen und das Publikum zusehen, wie Julia Kreusch und Zlatko Maltar sich förmlich in den Text hineinarbeiten.
Schuld, Unschuld, Überleben
Beide spielen die Eingangsszene, in der sich Lene und Anton kennen lernen, drei-, viermal, variieren Stimmungen und Stimmlagen, gleichen Erinnerungen ab: “So haben wir uns kennengelernt und dann sind wir gewesen?” Und der Retter in der roten Samariter-Jacke wedelt mit seinem silbernen Koffer – und rettet dann doch nichts und niemanden. Weil er Lene auch kein besserer Vater sein kann und Steinbuchs Figuren sowieso bemerkenswert wenig Empathie füreinander aufbringen, verfehlt jeder den anderen.
Die Kindheit ist hier schon immer verloren, der Status der Unschuld nie erreicht worden. Und doch geht es um Zufügungen, um Fahrlässigkeit und Fühllosigkeit, um Erwachsene, die schuldig an den Kindern werden, die selbst nie zu den Großen gehören wollen – “Du musst doch auch mal erwachsen werden”, sagt Anton einmal zu Lene, und die: “Ich muss gar nix.” Beklemmend dicht und schlüssig spinnen Steinbuch und Pfleiderer, die schon mehrmals zusammen gearbeitet haben, dieses dunkle Stück. So gehen am Ende alle Schauspieler wieder zurück auf Startposition, brummeln charakteristische Sätze ihrer Figuren vor sich hin, und der Gespensterreigen schließt sich.
Esther Boldt
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ach, wir Armen
“Menschen in Kindergrößen” in Mainz uraufgeführt
Was, wenn die Vergangenheit nie endet und man in sich selbst und den anderen, die schuld sind oder auch nicht, herumirrt wie in einem großen finsteren Wald? Dann sieht das ungefähr so aus wie im TiC des Mainzer Staatstheaters. Da ist zwar kein einziger Baum zu sehen, dafür aber lauter Wald aus alten Ängsten, tiefen Wunden und verstörten Gestalten, dass man wohl glauben mag, es lauerten die Ritter von der traurigen Seele und packten alle, die sich zu tief hineinwagten in das Dickicht ihrer Traumata. “Wenn sich uns wer anschließt, freuen wir uns”, sagen die Schattengestalten am Ende im Chor. Ein grausames Versprechen – man glaubt es aufs Wort.
Da ist Lene, die offenbar von ihrem Vater missbraucht wurde, der durch den Wald geistert. Lene aber lebt mit Anton, der, im deutschen Sprachgebrauch, ein Sanitäter wäre. In Österreich aber, wo die Autorin von “Menschen in Kindergrößen”, Gerhild Steinbuch, beheimatet ist, kommt, wenn sich wer etwas tut, die “Rettung”, was auch besser zu Steinbuchs poetisch-artifizieller Sprache passt, die Floskeln, unvollendete Sätze, aber auch präzise, dichte Bilder zu einer Mischung aus Originalität und Manieriertheit fügt, die in aktuellen österreichischen Stücken häufig zu finden ist. Gestörte Familienbande in einer Welt der Superleistung und der Verdrängungsexperten sind Steinbuchs Themen. Regisseurin Julie Pfleiderer, die zum dritten Mal mit ihr arbeitet, nimmt das Mainzer Auftragswerk, die zweite Steinbuch-Uraufführung dort nach “kopftot”, gleich mehrfach beim Wort: Das Ensemble, in Zweiergruppen oder im Chor, spielt Passagen gleich mehrfach in wechselndem Stil, tauscht untereinander den komplexen Text und verbindet ihn zuweilen mit beinahe tänzerischem Körpertheater.
Lene (Julia Kreusch) fällt dauernd vom Dach, oder vielmehr, sie lässt sich fallen, um die Erinnerungen in ihrem Kopf stumm zu machen. Dann kommt Anton (Zlatko Maltar), der “Retter”, der keiner ist. Denn Anton, mit dem sie ein Kind namens Koll kriegen sollte, hat vielmehr einen Jungen namens Koll (Lorenz Klee) überfahren, am Waldrand. Koll spielt mit Ada (Johanna Paliatsou) dort Selbstmord – mit Anton klappt es dann. Und der kommt nicht darüber hinweg. Oder waren der Lumpenritter Marek (Thomas Prazak), oder der Alte (Thomas Kornack) schuld?
Anders als im Märchen gibt es in Steinbuchs Text keine grundböse Figur, auf die man alle Schuld und alles Leid wälzen könnte. Die Menschen bleiben ewig in Kindergrößen, weil damals ihr Trauma seinen Anfang nahm, aber auch, weil sie klein und armselig werden unter ihrer Last. Mit zarten musikalischen Signalen, sensibler Lichtregie und einem Raum (Jochen Schmitt), der dem Publikum auf Podesten zuweilen die Figuren als Nebensitzer holt und den einzelnen Figurengruppen je einen Spielort zuweist, gelingt es Pfleiderer, Steinbuchs durch die Zeitebenen springende Vorlage zu einer im Vergleich zu den Vorgängern erstaunlich stringenten Inszenierung zu machen. Zuweilen kommt sogar das auf, dessentwegen man ja durchaus in Theater geht: Mitleid, Trauer, Rührung. Und manchmal darf sogar gelacht werden – leise beunruhigt. Eva-Maria Magel
Text: F.A.Z., 22.12.2008, Nr. 299 / Seite 44